Kapitel 4

Die Musikhallen

Im Unterschied zu den früheren Gesangs- und Musikfesten, die auch im Freien ihren Rahmen und ihre volkstümliche Wirkung gefunden hatten, brauchten die Schlesischen Musikfeste ein anderes Umfeld. Nicht selten wirkten über 800 Sänger und weit über 100 Orchestermusiker an den Festaufführungen mit. Chor und Orchester, Solisten und Dirigenten und nicht zuletzt das Publikum hatten ein Anrecht auf eine gute Akustik und einen stilvollen Raum. Die Veranstalter wünschten sich ein gestaffeltes und reichhaltiges Platzangebot, um mit hohen Teilnehmerzahlen auch die gewünschten und für die Zukunft erforderlichen Einnahmen zu sichern.

 Bisher waren solche Räume bestenfalls in den großen Kirchen zu finden gewesen, aber dort fehlten fast alle Voraussetzungen, um Mitwirkenden und Zuhörern das Musizieren zur Freude werden zu lassen. Das reichte von einer weiträumigen Bühne über den Saal mit großer Fläche und mehreren Rängen über Garderoben, Wandelgänge, Umkleideräume, Gaststättenräume, Treppen und Fluchtwege und einen Garten zum Promenieren bis zu Toiletten, Anfahrtswegen für Fahrzeuge, Kassen- und Büroräumen. Billige Provisorien waren bei dem hohen Anspruch an die Musikfeste von vornherein indiskutabel.
Die erste Musikhalle stand pünktlich zum Musikfest 1878, dem ersten in Görlitz, zwischen Stadtpark und Neißeufer bereit. Diese Halle hatte zunächst zwischen 1863 und 1872 auf dem Neumarkt (seit 1871 Wilhelmsplatz) gestanden. Ihr Eigentümer, der Görlitzer Gartenbauverein, hatte darin Ausstellungen, Zirkusvorstellungen und Sommertheater veranstaltet. Gewiss handelte es sich nicht um ein Wunderwerk der Baukunst. Als sich der ursprüngliche Plan zerschlug, in der Maschinenbauanstalt ein transportables und zerlegbares Metallhaus bauen zu lassen, um damit die Kosten für ein festes Gebäude zu umgehen, kauften die Veranstalter der Schlesischen Musikfeste lieber das ausrangierte Monstrum des Gartenbauvereins. Die Kosten für einen konzertgerechten Umbau wurden durch Graf Hochberg, die Provinz Schlesien und die Landstände der preußischen Oberlausitz vorgeschossen. Der Standort war dicht unterhalb der 1875 eingeweihten Reichenberger Brücke zur Oststadt, auf dem späteren Gelände des Stadthallengartens. Wegen ihrer scheunenähnlichen Balkenkonstruktion und ihrer Mauern und Fußböden aus unverputzten Ziegeln bekam die Halle durch den respektlosen Volksmund den Namen „Musikstall“, doch war sie wegen ihrer guten Akustik bei Musikern und Zuhörern geschätzt. Für 900 Mitwirkende und für 2 000 Gäste (1 100 Sitzplätze) fand sich bei den elf Musikfesten Platz. 1896 schenkte Graf Hochberg das Gebäude der Stadt.
Unmittelbar neben dieser alten Musikhalle stellte 1897 die Stadt Görlitz das Bauland für eine neue Festhalle bereit. 1905 beschlossen dann die Stadtverordneten den Bau einer Stadthalle, die vorrangig als Musikfesthalle dienen, jedoch vielseitig verwendbar sein sollte. Das Projekt lieferte der Architekt Bernhard Sehring aus Berlin, ein seinerzeit gefragter und anerkannter Fachmann für großräumige Funktionsbauten. Die Grundsteinlegung erfolgte unmittelbar nach dem letzten Musikfest in der alten Halle am 20. Juni 1906 durch Graf Hochberg, Oberbürgermeister Georg Snay und andere Persönlichkeiten. Das Einsturzunglück vom 9. Mai 1908 verzögerte die Fertigstellung. Die Konzertorgel lieferte Wilhelm Sauer aus Frankfurt/Oder. Sie erklang im Eröffnungskonzert mit dem Philharmonischen Orchester Berlin unter Generalmusikdirektor Dr. Karl Muck am 27. Oktober 1910.
Der große Saal der neuen Stadthalle bot nun mindestens 2 700 Sitzplätze und auf der Konzertbühne Platz für mehr als 900 Mitwirkende. Bei Großveranstaltungen fanden hier, Stehplätze eingerechnet, bis zu 4 000 Personen Aufnahme. Im Bankettsaal gab es für Kammerkonzerte 330 Sitzplätze. Restaurant und Konzertgarten vervollkommneten die vielseitige Verwendbarkeit und Rentabilität des neuen Bauwerkes. In der Nachbarschaft des Ständehauses, der Rothenburger Versicherung und der Oberlausitzer Gedenkhalle („Ruhmeshalle“) setzte die Stadthalle kurz vor dem Ersten Weltkrieg einen gewichtigen städtebaulichen Akzent in den Parkanlagen am Neißeufer. Es war die größte Konzerthalle zwischen Breslau und Dresden. Der etwas üppig geratene figürliche Schmuck an den Fenstern und im Dachbereich rief zwar Spötter auf den Plan. Die festliche Atmosphäre des großen Saales in Weiß, Gold und Dunkelweinrot nahm jedoch jeden Besucher für die neue Musikhalle ein. Obwohl es hier auch Vereinsvergnügen und Boxkämpfe, Parteitage, Theateraufführungen, Massenversammlungen oder Notunterkünfte gab, blieb die Stadthalle im Bewusstsein der Görlitzer und ihrer Gäste vor allem mit den Schlesischen Musikfesten verbunden, sogar in den 54 Jahren erzwungener Pause.

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