Kapitel 5

Kulturelle Bürgerinitiative

Etwa in der Mitte der Provinz, in Hirschberg, hatten musikbegeisterte Schlesier 1876 das 1. Schlesische Musikfest gestaltet. Viermal in der Frühzeit dieser Musikfeste war die Provinzhauptstadt Breslau Gastgeber gewesen (1877, 1881, 1884, 1887). Nachdem Görlitz schon 1878, 1880, 1883 und 1886 Schlesische Musikfeste ausgerichtet hatte, fanden sie ab 1889 bis 1937 ununterbrochen hier statt, ebenso wie die vorerst letzten vor Kriegsende (1940, 1942). So war Görlitz Austragungsort für 19 von bisher insgesamt 26 und wurde so zum ersten Sachwalter einer verpflichtenden Tradition.

Sicherlich erschien Görlitz, obwohl am westlichen Rand der Provinz Schlesien gelegen, als besser geeignet im Vergleich zu Breslau mit seinem vielgestaltigen Kulturangebot. Die Sänger des Musikfestchores kamen ohnehin aus den Gesangvereinen niederschlesischer Städte, die von Görlitz nicht so weit entfernt waren. Von Görlitz aus aber strahlten die Schlesischen Musikfeste aus in nördlicher Richtung bis zur Kulturmetropole Berlin und nach Westen bis zu den Musikstädten Dresden und Leipzig. Von dort her kamen dann auch in stattlicher Anzahl Dirigenten, Solisten und Orchestermusiker.

Allen voran Görlitzer Bürger waren es dann auch, die einen zweckmäßigen und
ertragsreichen organisatorischen Rahmen fanden, ohne den künstlerische Höchstleistungen und ein nachhaltiges Musikerlebnis nicht hätten reifen können. Schon bald nach dem Beginn der Schlesischen Musikfeste bildete sich ein Zentralkomitee. Zwischen den einzelnen Festen hielt es die Verbindung mit den beteiligten örtlichen Gesangvereinen, damit die geplanten Aufführungen großer Chorwerke rechtzeitig und überall durch gründliche Einstudierungen vorbereitet wurden. Es waren Verhandlungen mit örtlichen und regionalen Behörden zu führen, nach Möglichkeit neue Geldquellen zu erschließen, Einnahmen und Ausgaben zu verwalten, Bauvorhaben zu organisieren und zu begleiten. Programm­entwürfe galt es zu bedenken und zu beschließen, Orchestermusiker und Solisten zu gewinnen, Dirigenten zu verpflichten. All dies geschah ehrenamtlich, also neben der beruflichen Tätigkeit, die ja auch viel Zeit und Kraft in Anspruch nahm. Keinerlei Büros mit fest angestellten Werbeagenten, Buchhaltern, Telefonistinnen, Korrespondenzschreibern oder Kraftfahrern standen zur Verfügung.

Für jedes einzelne Musikfest wurde außerdem ein Komitee berufen. Als Vorsitzende stellten sich in der Regel die Oberbürgermeister zur Verfügung. Zu diesem Komitee gehörten etwa 50 prominente Vertreter der Wirtschaft und Verwaltung, aus den Reihen der Musikschaffenden, Ärzte, Lehrer, Pastoren, Juristen und Offiziere. Ihr berufliches Ansehen und ihre gesellschaftlichen Beziehungen hoben den Ruf der Musikfeste und warben damit für die Teilnahme. Unter dem Ehrenvorsitz von Graf Hochberg und dem Vorsitz von Oberbürgermeister Büchtemann gehörten 1903 unter anderem zum Komitee Bürgermeister Heyne, Stadtkämmerer Dr. Kux, Polizeidirigent Wallis, die Fabrikanten Conti, Hagspihl und Dr. Weil, der langjährige Reichstagsabgeordnete und Aufsichtsratsvorsitzende der Waggonbau-AG Erwin Lüders, Emanuel-Alexander Katz als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, Rabbiner Dr. Freund, die Musikdirektoren Fleischer und Stiehler, Landeshauptmann von Wiedebach-Nostitz und Generalleutnant von Vietinghoff, die Buchdruckerei­besitzer Reiber und Munde und der Landschaftssyndikus Rietzsch.

In neun Ausschüssen oder Kommissionen kümmerten sich kleinere Gruppen von Mitgliedern des Festkomitees um die konkreten Schritte. An der Spitze stand dabei der Geschäftsführende Ausschuss, oft unter Leitung des Oberbürgermeisters, bei dem alle Fäden zusammenliefen. Unterstützung leisteten unter anderen der Musikausschuss, eine Pressekommission, die Notenkommission, die Kassenkommission, die Einquartierungskommission und die Vergnügungskommission. Da es sich durchweg um hochgebildete, lebenserfahrene und einflussreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens handelte, ließ sich mit einem Mindestmaß an Zeit und Worten etwas bewirken.

So wurden die Musikfeste im besten Sinne eine Bürgerinitiative. Gemeinsam plante man Programme und Termine, gewann Mitwirkende, sorgte für einen perfekten Ablauf der Konzerte, für Unterkünfte und Betreuung aller beteiligten Sänger und Musiker, für ausreichende Information über die Tagespresse und für solide Finanzen.

Die Görlitzer Stadtverordneten hatten 1877 fast einstimmig beschlossen, zunächst 3.000 Mark zur Deckung der Unkosten bereitzustellen. Das Musikfest 1878 erbrachte einen Überschuss. Wegen der Kosten für den Umbau der Festhalle blieben jedoch 9.794 Mark Schulden. Eine Lotterie mit Sondergenehmigung des Oberpräsidenten der Provinz Schlesien sollte ab 1879 weitere Mittel erbringen. Die Provinzialregierung hatte für die Halle 5.000 Mark gegeben, von den Ständen der preußischen Oberlausitz stammten 1.500 Mark. Die Eintrittspreise zum Musikfest 1878 fielen, gemessen am damaligen Gefüge von Einkommen und Preisen, recht hoch aus. Dauerkarten kosteten 10 bis 30 Mark, die Einzelkarten 4 bis 12 Mark. Für Generalproben bekam man einen unnummerierten Platz für zwei Mark, zu den Hauptproben für eine Mark. 1883 fielen 13.000 Mark Einnahmen an, Ausgaben für 23.434 Mark. Das preußische Kulturministerium stellte jedes mal 1.000 Mark bereit, um Geistlichen und Lehrern den Eintritt zu ermöglichen. 1891 erreichte man bei Ausgaben von 26.796 Mark schon Einnahmen von 20.897 Mark, 1894 erstmals sogar einen Überschuss von 4.056 Mark. Im Jahre 1911 fiel der Kassenabschluss günstiger aus. Ein Überschuss von 4.600 Mark und Rücklagen von 1.242 Mark stärkten die finanzielle Sicherheit. Allerdings stiegen die Preise für Dauerkarten auf 24 bis 60 Mark, was bei der inzwischen hohen Anziehungskraft der Musikfeste als zumutbar empfunden wurde.

Aus dem Jahre 1897 sind die ersten Feldpostkarten bekannt. Meistens zeigten sie Abbildungen der Festhallen und Aufführungen oder Porträts des Grafen Hochberg, der Dirigenten und Solisten, in der Regel nach Fotos des Görlitzer Starfotografen Robert Scholz und aus dessen Verlag. Gäste und Mitwirkende erwarben gern diese Karten für das eigene Album oder zum Verschicken, und auch das verfehlte nicht seine werbende Wirkung. Auch Festzeitungen und Programmhefte wurden gern gekauft. Ließen sich doch daraus die dargebotenen Werke, die Namen aller Mitwirkenden (auch jedes einzelnen Chorsängers) und Angaben zur Geschichte der Musikfeste entnehmen. Einführungen in die aufgeführten Hauptwerke und Kurzbiographien von Komponisten, Dirigenten und Förderern erhöhten den Informationswert. Nach dem Ersten Weltkrieg wuchsen diese Hefte, um einen Anzeigenteil erweitert, zu Festbüchern, reich illustriert und typografisch anspruchsvoll gestaltet, begehrt bei Musikfreunden und stadtgeschichtlich interessierten Sammlern.

Einfallsreich und stetig arbeiteten so die Verantwortlichen daran, den Ruf der Schlesischen Musikfeste Jahr um Jahr zu mehren. Der außergewöhnliche künstlerische Leistungsstand und die Gunst eines treuen, zahlreichen Publikums ließen dieses musikalische Hauptereignis im Leben der Stadt allmählich zu einer Legende werden. 1911 und 1913, bei den letzten Festen vor dem Ersten Weltkrieg und zugleich den ersten in der neuen Halle, war der Höhepunkt an Gediegenheit, Pracht und Enthusiasmus erreicht. Görlitz als eine der wohlhabendsten und schönsten Städte im Königreich Preußen und im Deutschen Reich war nun zur „Stadt der Schlesischen Musikfeste“ geworden und schmückte sich in berechtigtem Stolz auch mit diesem Ehrennamen.

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