Kapitel 7

Künstlerische Handschriften

Die Programmzettel der Schlesischen Musikfeste vermitteln uns zweierlei Erkenntnisse. Zum einen erhalten wir eine Vorstellung von der langsamen Wandlung von Hörgewohnheiten und -vorlieben und damit von dem Wechsel in der Musik. Zum anderen aber hängt die, freilich oft nur in Nuancen abweichende Programmgestaltung in den verschiedenen Jahren auch mit den künstlerischen Handschriften und Vorstellungen der jeweiligen Musikfest-Leiter zusammen. Die ersten zehn Musikfeste (mit Ausnahme des 9., das der Leipziger Karl Reinecke leitete) standen ganz im Zeichen von Ludwig Deppe aus Berlin.

Geboren 1828 zu Alverdissen (Lippe-Detmold), hatte er in Hamburg und Leipzig studiert und war nach Privatstellungen in Hamburg und Berlin (seit 1874) von 1886 bis 1888 Kapellmeister an der Königlichen Oper in Berlin gewesen. Außerdem war er als Klavierlehrer, Komponist und Dirigent geschätzt. Es ist wohl deshalb kein Wunder, dass Hochberg ihn für den Gedanken der Schlesischen Musikfeste begeistern konnte. Die Leitung eines Musikfestes umfasste dabei nicht nur alle künstlerischen Aufgaben wie Proben, Aufführungen und Programmgestaltung. Sie war weitaus umfassender zu verstehen. So reiste beispielsweise Deppe zusammen mit Hochberg vor der erstmaligen Ausrichtung der Musikfeste in Görlitz in die Neißestadt, um sich ausführlich über den Veranstaltungsort zu beraten; denn damals war erst an eine eiserne, transportable und zerlegbare Halle gedacht worden, wozu Gespräche mit der hiesigen Görlitzer Maschinenbauanstalt geführt wurden. Unter Deppe begann bereits die Ausweitung des Repertoires bei den Musikfesten, was wohl auch seinen Grund in seiner Opern-Anstellung in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts gehabt haben dürfte, und nicht gering war deshalb auch die Bestürzung, als er 1890 in Bad Pyrmont starb.

Nach einem kurzen Intermezzo von Franz Wüllner fand Hochberg wiederum in Dr. Karl Muck einen von dem Gedanken des Musikfestes eingenommenen Künstler, der für das 12. bis 17. Musikfest verantwortlich zeichnete. Muck war, 1859 in Darmstadt geboren, Theaterkapellmeister in Zürich, Salzburg, Brünn (Brno) und Graz. 1886 ging er nach Prag, worauf die Stelle eines Generalmusikdirektors in Berlin 1908 folgte. Fast dreißig Jahre lang war er neben Hans Richter und Felix Mottl Hauptdirigent bei den Bayreuther Festspielen. Muck bereicherte das Festspielprogramm, indem er zum einen die Königliche Kapelle aus Berlin mitbrachte. Dadurch war eine ganz andere Geschlossenheit als bislang im musizierenden Apparat gewährleistet, denn bis dahin wurde das Festorchester aus Musikern verschiedener Orchester zusammengestellt, was natürlich zwangsläufig zu Reibungsverlusten führen musste. Dadurch ergaben sich nun aber auch große künstlerische Möglichkeiten. Tschaikowskys Werk beispielsweise kam zur Aufführung, aber auch die Lieder von Hugo Wolf, von Dell `Aqua und Hans Pfitzner. Auch Berlioz und Chopin erklangen in Mucks Zeit. Nach dem 17. Schlesischen Musikfest nahm Muck Abschied, weil er das Sinfonieorchester in Boston 1912 übernahm. Nach dem Krieg finden wir ihn in Hamburg wieder, und in Stuttgart vollendet sich 83jährig sein Leben 1942.

Die dritte Führungspersönlichkeit fand der greise Hochberg erst für das 19. Schlesische Musikfest. 12 lange Jahre waren seit dem 18. vergangen, und es war keineswegs einfach die Tradition fortzusetzen. Noch zu sehr schwang bei manch einem der Eindruck des adligen Gesellschaftsereignisses mit. Diese Widerstände konnte Hochberg ebenso überwinden, wie er Furtwängler für das Musikfest gewann. Der 1886 in Schöneberg bei Berlin geborene Furtwängler, erhielt seine musikalische Ausbildung bei Rheinberger und Schillings in München. Seine Kapellmeister-Laufbahn begann er als Chordirektor und Kapellmeister an den Theatern zu Breslau, Zürich, München und Straßburg. Von 1911 bis 1915 war er musikalischer Leiter der Symphonischen Konzerte und des Philharmonischen Chors in Lübeck. Anschließend wirkte er als erster Leiter der Mannheimer Oper, ehe Furtwängler, in Nachfolge des nach Wien gegangenen Richard Strauss, die Leitung der Konzerte der Staatsoper in Berlin übernahm. Zugleich wurden ihm die Museumskonzerte in Frankfurt am Main, sowie die Konzerte des Tonkünstler­-Orchesters in Wien übertragen. Als Nikisch starb, folgte ihm Furtwängler als Dirigent der Gewandhaus-Konzerte in Leipzig und der Philharmonischen Konzerte in Berlin. Dem 19. Schlesischen Musikfest war ein erfolgreicher Auftritt in New York vorausgegangen. Furtwängler, so bemerkte Josef Kaut in einer Dokumentation zu den Salzburger Festspielen, galt als „Dirigent der verhaltenen Zeitmaße“, der „das Unüberlegte, den plötzlichen Impuls“ bejahte. Dem Engagement bei den Schlesischen Musikfesten folgten dann die Leitungstätigkeiten bei den Bayreuther und Salzburger Festspielen.

Die Musikfeste standen seit 1930 aber auch ganz im Zeichen des Görlitzer Kirchenmusikers Eberhard Wenzel. 1896 im pommerschen Pollnow als Sohn eines Pfarrers geboren, erhielt Wenzel seine Ausbildung in Berlin bei Ehrenberg, der ein Schüler Humperdincks und Regers war, und bei Walter Fischer, Organist an der Kaiser-Wilhelm­-Gedächtniskirche. Er verehrte Mendelssohn, über den er 1921 seiner Frau schrieb: „Mendelssohn war für mich das Evangelium“. Insofern stand er in der Tradition der Musikfest-Idee. Ursula Herrmann schrieb in ihrer Wenzel-Biografie über jene Jahre:

„Eine besondere Aufgabe erwartete Eberhard Wenzel in der Vorbereitung und Durchführung der Schlesischen Musikfeste, die während seines dortigen Wirkens 1931, 1937, 1940 und 1942 in Görlitz stattfanden. Wenzel gehörte dem Festkomitee an und war speziell im Musikausschuss tätig. Man hatte sich 1931 um bedeutende Festdirigenten bemüht und diese in Dr. Wilhelm Furtwängler (Berlin) und Professor Dr. Georg Dohrn (Breslau) gefunden. Neben einem Furtwängler-Sinfoniekonzert und einer Kammermusik der Berliner Philharmoniker standen zwei chorsinfonische Aufführungen von Rang. Der aus etwa 650 Sängern bestehende Festchor vereinte zehn schlesische Chöre zu einer gewaltigen Chorgemeinschaft. Wenzel war dabei die Aufgabe zugefallen, die Görlitzer Singakademie und den Lehrergesangsverein für die Aufführungen von Dohrn und Furtwängler vorzubereiten. Überdies war es Wenzel gelungen, in das Festprogramm erstmals ein Orgelkonzert einzubauen: am Pfingstsonnabend in der über 2000 Hörer fassenden Peterskirche. Das fand solchen Anklang, dass die Einbeziehung eines Orgelabends dann zur Tradition wurde.“ Wenzel wurde 1951 zum Leiter der Kirchenmusikschule in Halle berufen und verstarb 1982 in Künzelsau-Kocherstetten. In einem Beitrag erinnerte sich jüngst Maria Frenzel­-Weiner, langjährige Leiterin der Görlitzer Musikschule, an Wenzel als „einen enthusiastischen, hervorragenden Musiker.“

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